Call for Papers
„Kritik!"
Wenn Totgesagte länger leben, dann können wir damit rechnen, dass uns die Kritik noch eine ganze Weile erhalten bleibt. Denn in ihrem Wesen liegt, dass sie sich reproduziert und potenziert. Die Kritik der Kritik, der antiautoritäre Angriff auf die antiautoritäre Geste der Kritik, begleitet im regelmäßigen Turnus die politischen und sozialen Umbruchsituationen. Man erinnere sich nur daran, wie Bruno Latour sich die „kleine Gemeinheit“ erlaubte, soziale Kritik und Verschwörungstheorien nebeneinanderzustellen (Latour 2007). Nun scheint es, als nähmen die Aktualisierungen der Kritik als der Kunst, nicht bzw. „so nicht!“ regiert zu werden (Foucault 1978), wieder zu – sei dies in Bezug auf die sogenannten Sozialen Medien (Lovink 2012), die Zeitregime der Gegenwart (Rosa 2012, Crary 2013) oder die Politik des Humanismus im Zeitalter der Globalisierung (Mbembe 2014). Diese Positionen zielen auf eine Idee der Kritik als Reflexion auf die Grenzen nicht nur der Erfahrung und der Erkenntnis (Kant), sondern eben auch als Reflexion über die Grenzen des Notwendigen, des Kontingenten und des Veränderbaren. Wie aber gestaltet sich diese Reflexion zugleich in Medien, als Medien und über Medien?
Der Zusammenhang von Kritik und Medien besteht nicht nur darin, dass es sich bei allen Abwehrhaltungen gegen Kritik immer auch um Grenzziehungen zwischen Medienkulturen handelt. Jede Medientheorie trägt gleichfalls stets eine Spur Kritik in sich, d.h. eine Spur der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Medialität und nach ihrem etwaigen a priori in der Technologie, der Anthropologie, der Sprache oder der Macht. Genauso ist jeder Kritik immer auch die Frage nach der Möglichkeit der Kritik, d.h. nach ihren Medien, inhärent.
Welche Rolle kann der Akt des Sich-Sichtbarmachens, der jeder Kritik innewohnt, heute spielen, zwischen den unsichtbaren Algorithmen der Netz-Titanen und Cyber-Trader und den „Kommenden Aufständen“ von Unsichtbaren Komitees und Anonymous?
Ideologiekritik und Kritische Theorie
Zahlreiche Formen der Kritik lassen sich unter dem Oberbegriff der Ideologiekritik subsumieren. Sie ist zwar von Marx nicht erfunden worden, aber das Konzept vom gesellschaftlich notwendig falschen Bewusstsein, das er insbesondere in der Deutschen Ideologie prägte, bleibt bis heute ein Maßstab aller ideologiekritischen Theoretisierungsversuche. Ausgehend von einer „Hermeneutik des Verdachts“ (Ricœur 1969) zielt Ideologiekritik nicht auf Irrtum, willentliche Täuschung oder Vorurteil, sondern auf das grundlegende Missverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und den Bewusstseinsstrukturen, die sich auf diese richten, aber gleichzeitig aus ihnen hervorgegangen sind. Seitdem ist die Historisierung unseres Bewusstseins, von den Wissensbeständen bis zu den Wahrnehmungsformen ein fester Bestandteil der geistes- und medienwissenschaftlichen Forschungsagenda. Und auch wenn spätestens seit den 1980er Jahren die u.a. poststrukturalistisch inspirierte Kritik an den normativen Zügen des Ideologiebegriffs selbst erstarkte, hat sich die Ideologiekritik als Perspektive der Medienwissenschaften prominent weiterentwickelt (Žižek, Jameson).
Mit dem Begriff der Kritik ist aber auch im Speziellen das Erbe der Kritischen Theorie aufgerufen. Welchen Wert hat die Frankfurter Schule heute wieder für eine produktive Auseinandersetzung mit Medien? Diese Frage betrifft nicht nur die kanonisierten Texte der Kritischen Theorie wie Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, Kracauers Theorie des Films, Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien und das Kulturindustrie-Kapitel von Horkheimer und Adorno. Grundsätzlich ist von Interesse, welche Mittel die Kritische Theorie bereitstellt, um das Verhältnis von Medien und Gesellschaft zu fassen. Zu fragen wäre daher, an welche Begriffe oder Poetologien von Kritik man anknüpfen kann, etwa an Benjamins Idee vom produktiven Experiment am Gegenstand, das dessen spezifische Reflexion und Geschichtlichkeit, also die ihm immanente Kritik offenlegt.
Filmkritik
Darüber hinaus lässt sich anhand der Kritischen Theorie und insbesondere anhand der Filmkritiken des frühen Kracauer nach dem Verhältnis von journalistischer Film- bzw. Medienkritik und Medientheorie fragen – eine Frage, die sich unter jeweils anderen Vorzeichen für vergleichbare Konstellationen von Kritik und Theorie stellen ließe (man denke etwa an Bazin, Wood oder Warshow).
Das Zusammengehen von Kritik und Film erschließt sich dementsprechend nicht zuletzt in der Institution der Filmkritik selbst, in ihrer Geschichte, ihren Diskursen, ihren nationalen wie auch medialen Eigenheiten. Was heißt Filmkritik und was kann sie vor dem Hintergrund der sich wandelnden Medienlandschaft noch leisten? Wie verhält sich die offizielle Seite der Filmkritik zu ihrem Gegenstück, zu Amateuren, Fangemeinschaften und Cinephilen? Inwieweit verbindet sich die Beurteilung des einzelnen Werks mit einer Reflexion über seine Möglichkeitsbedingungen, d.h. mit einer Kritik der Filmindustrie, oder, allgemeiner, der Medien überhaupt? Und wie stellt sich die Frage nach einer kritischen Öffentlichkeit, wenn die tradierten Zuordnungen, wie Medien in Medien besprochen werden, mehr und mehr aufgelöst werden?
Medienkritik
Doch auch die Medien stehen in immer wieder neuen Wellen in der Kritik. Die Figurationen von Kritik an den Medien zeichnen sich generell durch eine Form der Gegenrede aus, als Kritik am Gegenstand selbst, die insbesondere immer dann aktuell (und aktualisiert) wird, wenn ein neues Medium in Erscheinung tritt. Doch geht es hierbei nicht nur um das Zusammentreffen von Emergenz und gesellschaftlichen Befürchtungen, die schon das Aufkommen des Films, des Comics und der Videokassette begleiteten und heute im Verdacht der Identität von Ego-Shooter und Campus-Shooter gipfeln, sondern um den kritischen Gehalt der Medien selbst, der sich immer wieder zwischen den Polen von Spezifik und Gebrauch, Revolution und Normalisierung, Utopie und Dystopie entfaltet (z.B. Vertov, Postman 1985, Rosen 2001). Zentral ist somit sowohl die historische und ästhetische Dimension dieser Prozesse, als auch ihre inhärente Logik, im Neuen das Alte zu überhöhen oder das noch Neuere zu fordern.
Kritische Bilder
Indes können beispielsweise Filme nicht nur Gegenstand der (Kunst-)Kritik sein, sondern sich selbst ebenso als Medium der Kritik verstehen. Als Gegenkino oder Underground, Avantgarde oder Genrekritik verfolgen Filme (wie auch die seriellen Produktionen des Comics, des Fernsehens oder Podcasting) immer wieder die Absicht, eine genuin kritische Ästhetik zu entwickeln, die quer stehen soll zum bisherigen Kanon, Konzept oder Stil.
Über die historische Perspektive hinaus kommt damit die Frage auf, inwieweit Medien, Filme und Bilder selbst überhaupt in der Lage sind, kritisch zu sein, zu argumentieren (Heßler/Mersch 2009) und „Position zu beziehen“ (Didi-Huberman 2011) – eine Frage, die sich in Bezug auf interaktive Formen wie digitale Spiele möglicherweise noch einmal ganz anders stellt. Oder müssen wir statt nach dem Streitwert der Bilder (Rancière) eher nach kritischen Medienpraktiken im Sinne poetischer Aneignungsprozesse (de Certeau 1988) fragen? Damit verbunden wäre die Frage, ob eine solche, nach Maßgabe medialer Expressivität formulierte Kritik sich auf anderes richten kann, als nur auf die Möglichkeit anderer Medienpraktiken, -techniken oder -poetiken. Oder ob und unter welchen Bedingungen und in welcher Form Medien eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse – eine Kritik der Geschlechterverhältnisse, des Rassismus und der Klassenherrschaft, oder schlicht: der Lebensformen (Jaeggi 2013) – leisten können.
So kehren wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück, in welchem Kritik und Medien miteinander verknüpft sind: Sich über den Bezug auf etwas zu definieren, bringt immer auch die eigene Position als Problem hervor, ist immer ein potenziell reflexiver Akt. Es gilt daher, die Betriebsamkeit des in diesem weiten Sinne verstandenen Kritikbetriebs, der die Medienwissenschaft explizit mit einschließt, auf die darunterliegenden Prozesse einer permanenten, medialen Selbstvergewisserung über Urteils- und Wertesysteme zu untersuchen.
Wir laden ein zur Einreichung von Panels (3-4 Vorträge à 20 Minuten) und von Einzelvorträgen (die im Falle einer Aufnahme ins Tagungsprogramm zu thematischen Panels zusammengefasst werden).
Wir wollen außerdem ausdrücklich dazu ermuntern, Vorschläge zu Workshops (moderierte Diskussionen mit kurzen Impulsvorträgen), Informationsveranstaltungen und anderen alternativen Formaten sowohl zum Thema der Tagung, als auch zu aktuellen Forschungsfragen und hochschulpolitischen Anliegen einzureichen.
Vorschläge für Einzelvorträge sollen umfassen: Titel, ein Abstract von max. 2.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) sowie eine Kurzbiografie. Einreichungen für Panels bestehen aus 3-4 Einzelvorträgen (à max. 2.000 Zeichen) sowie einem Rahmentext von ebenfalls max. 2.000 Zeichen und einem Vorschlag für die Moderation.
Einreichungen bitte ausschließlich über dieses Einreichungsformular.
Deadline für alle Einreichungen ist der 20.02.2016.
Alle weiteren Anfragen per E-Mail an gfm2016@fu-berlin.de.